… obwohl tausende von Patienten in fortgeschrittenem Erkrankungsstadium schon völlig apathisch, nur noch in einer Art Wachkoma, dahindämmern, werden ihnen die kostenintensiven – aber nunmehr sicher absolut wirkungslosen – Medikamente weiter über Magensonden oder Hautpflaster zugeführt.
… Jeder Versuch des abgekämpften, müden und ausgelaugten Herzens, seine Tätigkeit für immer einzustellen, wird gnadenlos mit einem kleinen Stromstoß geahndet. Und so, durch die Magensonde mit ausreichend Energie versorgt, schlägt und schlägt es weiter, bis auch das letzte bisschen an Muskelkraft verbraucht ist. Erst dann darf ein Patient sterben – und erst dann erleidet die Gesundheitsindustrie wieder einen kleinen Verlust, stirbt eine der beliebig ersetzbaren Geldquellen eines zum Moloch gewordenen Gesundheitssystems.
Es wäre wesentlich ethischer, auf das generelle Setzen von Magensonden bei Alzheimerpatienten zu verzichten und ohnehin sterbenden Menschen einen würdigen Tod zu gönnen. Denn die gewonnenen Lebensmonate haben keinen Inhalt und keinen Sinn mehr. Die Patienten verbringen sie nur noch bewegungslos, meist wundgelegen, mit Windeln und Kathetern versorgt, still leidend und ständig von fremder Hilfe umsorgt. Die einzige Seite, die von dieser dem Tod abgetrotzten Lebenszeit wirklich profitiert, ist die „Lang-leben-Industrie“.
Wenn kritische Ärzte oder nachdenkliche Angehörige die Frage stellen, warum diese Maßnahmen notwendig sind und wozu sie gut sein sollen, so erhalten sie von den selbsternannten Vertretern des Systems in der Regel die Antwort: „Man kann doch einen Menschen nicht einfach so sterben lassen.“ Die Betonung liegt auf dem Wörtchen „so“: ein subtiler Vorwurf. Die Bezichtigung unterlassener Hilfeleistung. Ausgesprochen im Brustton der Überzeugung, die einzig richtige Denkart zu vertreten. Nämlich die Ethik der Gesundheitsindustrie.
Loewit, Günther: Wie viel Medizin überlebt der Mensch? Haymon Verlag.