Am 1. September 2019 wurde das Patientenverfügungsgesetz 10 Jahre alt. Da konnte man sich schon fragen: Ist das ein Grund zum Feiern? Im Prinzip ja, aber in vielen Einzelfällen wohl eher nicht, denn die Patientenverfügung gibt es nicht. Es gibt hunderte Anbieter, deren Patientenverfügungen teilweise ähnlich, aber dann doch in wichtigen Punkten unterschiedlich sind. Für einen Laien sind diese Unterschiede kaum zu erkennen und wenn doch, ist die Konsequenz oft nicht offensichtlich. Das Hauptproblem liegt darin, dass eine Patientenverfügung erst zur Anwendung kommt, wenn die Person ihren Willen schon nicht mehr kommunizieren kann. Wer kann dann sagen, ob die Patientenverfügung dem aktuellen Willen der Person entsprechen würde? Ärzte und Pflegekräfte können sich dann aber auf den Text der Verfügung berufen und so oft behaupten, dass die Person in der aktuellen Situation noch vom Sterben abgehalten werden wollte. Wie kann das sein?
Im Patientenverfügungsgesetz wurde festgelegt, dass Volljährige Vorausverfügungen für ihr Lebensende aufsetzen können und diese von Ärzten und Pflegekräften zu beachten sind. Entscheidende Bestimmung darin ist, dass Patientenverfügungen »unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung« gelten können. Das hat weniger Beachtung gefunden als die Bestimmung, dass Festlegungen konkret zu sein haben. Was das genau ist, steht nicht fest, aber hat schon Anwälte und Richter bis zum Bundesgerichtshof beschäftigt.
2004 hatte eine Arbeitsgruppe beim Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJBMJ Bundesministerium der Justiz) Empfehlungen für Patientenverfügungen erarbeitet, die heute noch im Wesentlichen unverändert vom BMJ angeboten werden. Die meisten Anbieter haben sich daran orientiert und verlangen teilweise für etwas Geld, was beim BMJ kostenlos zu haben ist, wie die Verbraucherzentrale festgestellt hat.
Die erste Situationsbeschreibung des BMJ zeigt schon, wie beschränkt die Vorgaben sind, sie lautet: „Wenn ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach unabwendbar im unmittelbaren Sterbeprozess befinde.“ Nun kann keiner genau sagen, wann bei einem Menschen der Sterbeprozess begonnen hat, was damit vollständig in die DiagnosehoheitDiagnosehoheit Es braucht medizinische Expertise, um eine Diagnose stellen zu können. von Ärzten gelegt ist. Wenn man sich dann überlegt, dass Krankenhäuser Wirtschaftsunternehmen sind, die mit Behandlungen Geld verdienen wollen/müssen, dann darf unterstellt werden, dass das Interesse, zu diagnostizieren, diese Situation sei eingetreten, aus wirtschaftlicher Sicht gering ist. Was diese Situationsbeschreibung aber noch unwirksamer macht, ist der Umstand, dass sie durch drei Einschränkungen eingeleitet ist, nämlich „aller Wahrscheinlichkeit nach“, „unabwendbar“ und „unmittelbar“. Der PalliativmedizinerPalliativmedizinische Betreuung In der palliativmedizinischen Betreuung geht es um die Versorgung von Menschen mit unheilbaren und weit fortgeschrittenen Erkrankungen sowie begrenzter Lebenserwartung. Vorrang haben dabei die Linderung von Beschwerden und die Steigerung der Lebensqualität. Ärzte können dafür Zusatzausbildungen absolviere und sich dann Palliativmediziner nennen. Matthias Thöns sieht im Effekt ein Sterbeverlängerungskartell am Werk, das am Lebensende teilweise mit Übertherapie noch hohe Gewinne einstreichen will.
BevollmächtigteBevollmächtigte Ein/e Bevollmächtigte/r ist eine vom Vollmachtgeber berufene Person, die in Vertretung der Vollmachtgeberin oder des Vollmachtgebers entscheiden bzw. handeln kann./Angehörige sind da machtlos, weil Ärzte die Diagnosehoheit haben und im Zweifel Juristen nach dem Text der Patientenverfügung urteilen, der zu oft nicht konkret genug ist.
Zum Glück ist das nicht die einzige Situationsbeschreibung. Die zweite sagt, die Verfügung solle beachtet werden, „im Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Erkrankung“. Hier kann man sich aber auch wieder streiten, wann denn das erreicht ist. Um hier ein wenig mehr Sicherheit zu geben, heißt es beim BMJ, dass dies gelten solle, auch „wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist“. Dieser Zusatz bezieht sich allerdings nur auf diese zweite Situationsbeschreibung!
Beim BMJ gibt es dann noch zwei weitere Situationsbeschreibungen, nämlich zunächst bezogen auf eine schwere Hirnschädigung, bei der zwei Ärzte diagnostiziert haben müssen, dass keine Besserung zu erwarten ist. Man darf sich fragen, warum dies zwei Ärzte diagnostizieren müssen. Ist zu erwarten, dass ein Arzt zu früh diese seltene Diagnose stellt? Unter den gegenwärtigen ökonomischen Bedingungen wohl eher nicht. Diese eingebaute Hürde führt dann eher dazu, dass länger behandelt wird, zumal nicht immer gleich ein Arzt zur Verfügung steht, der qualifiziert ist, die verlangte Zweitdiagnose zu stellen. Wenn auf der anderen Seite aber, ein BevollmächtigterBevollmächtigte Ein/e Bevollmächtigte/r ist eine vom Vollmachtgeber berufene Person, die in Vertretung der Vollmachtgeberin oder des Vollmachtgebers entscheiden bzw. handeln kann. der Meinung ist, die erste Diagnose würde nicht zutreffen und der Patient solle weiterbehandelt werden, steht einem nach geltendem Recht zu, eine Zweitmeinung einzuholen oder die Behandlung einem anderen Arzt zu überantworten. Warum also zwei Diagnosen bindend vorschreiben? Auch hier kann man sich fragen: Wem nützt das?
Die vierte und letzte Situationsbeschreibung, die das BMJ anbietet, bezieht sich auf eine weit fortgeschrittene Demenz. Kriterium ist hier, dass der Patient Nahrung und Flüssigkeit, selbst bei ausdauernder Hilfestellung, schon nicht mehr auf natürliche Weise zu sich nimmt. Nicht mehr essen zu können, ist schon schlimm genug, aber wer möchte dann noch durch orale Flüssigkeitsgabe (z. B. mit einer Schnabeltasse) vom Sterben abgehalten werden? Dass ein sterbender Mensch keinen Durst leiden soll, ist selbstverständlich, doch kann das durch fachgerechte Mund- und Schleimhautpflege einfach bewirkt werden.
Nun gibt es Anbieter von Patientenverfügungen, die zugleich Betreiber von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sind. Wie ist es zu verstehen, dass bei dem deutschlandweit größten dieser Anbieter, nicht nur die Situationen schwere Hirnschädigung und weit fortgeschrittene Demenz nicht angeboten werden, sondern auch der Zusatz bei der zweiten Situation: „wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist“ gestrichen wurde? Damit ist sichergestellt, dass Patienten, die dessen Patientenverfügung nutzen, noch sehr lange legal vom Sterben abgehalten werden können.
Vorsorgewillige, denen diese sogenannte „Christliche Patientenvorsorge“ vorgelegt wird, können glauben, dass sie damit abgesichert sind. Doch dürfte häufig selbst derjenige, der diese Broschüre aushändigt, nicht wissen, wie eingeschränkt sie ist. Auch dürfte sich nicht jede/r die Mühe machen, die ganze 46-seitige Broschüre durchzulesen. Dort steht auf Seite 21f tatsächlich, wie die Situationen erweitert werden könnten, aber beispielhaft nur auf die schwere Hirnschädigung bezogen. Dort finden wir die Situationsbeschreibung des BMJ wieder, jedoch mit dem Zusatz, dass sie nur gelten soll, wenn „eine akute Zweiterkrankung hinzukommt“.
Es wäre wünschenswert gewesen, wenn das BMJ 2009 seine Patientenverfügungs-Empfehlung gemäß dem Gesetz weiterentwickelt hätte. Alternativ könnte es auch hilfreich sein, wenn es eine Instanz gäbe, die die Angebote der verschiedenen Anbieter vergleicht und ein Qualitätsurteil abgibt, so wie wir es von der Stiftung Warentest auf andere Produkte bezogen kennen. Leider haben die Verbraucherzentralen sich dadurch disqualifiziert, dass sie eine eigene Patientenverfügungsbroschüre herausgeben und die natürlich für das Nonplusultra halten.