Zwischen Würde und Geschäft
Wann und wo immer von sterbenden Menschen gesprochen wird, werden diese als „Patienten“ bezeichnet, was aus dem Lateinischen übersetzt „Leidender“ bedeutet. Aber nicht jeder sterbende Mensch ist zugleich ein leidender Mensch. Wir müssen wieder lernen, dass Menschen dann und wann auch gesund sterben können. Und dass selbst die beste medizinische Behandlung über das ganze Leben hinweg den Tod nicht verhindern kann.
Aber die Medizin spielt schon lange eine zwielichtige Rolle: Die Maxime moderner Heilkunst scheint zu lauten, so viele Untersuchungen wie nötig zu veranlassen, um aus einem unauffälligen Menschen einen Patienten zu kreieren (ganz nach der Devise: Es gibt keine gesunden Menschen, sondern nur schlecht untersuchte) und daraufhin so viel Therapie wie nötig durchzuführen, um aus dem künstlich erkrankten Individuum wieder einen gesunden „Patienten“ zu machen. Nur wer sich konsequent von medizinischen Reihenuntersuchungen fernhält, hat eine Chance, gesund zu bleiben.
Der sogenannte „unerwartete Tod“ hochbetagter Menschen spricht eher für mangelndes Reflexionsvermögen der weniger betagten Hinterbliebenen. Und in Gegenwart von Gedankenlosigkeit muss Würde immer kapitulieren.
Für kein anderes Lebensalter wird in der Medizin so viel Geld ausgegeben wie für das letzte Lebensjahrzehnt.
Loewit, Günther: Sterben – Zwischen Würde und Geschäft. Haymon Verlag